Rossado (Band I, Kapitel VI)

»Carecilla ist die Frau am Feuer, nicht wahr?«
   »Ja, sie ist es«, bestätigte Caperjo.

   »Ist sie eure … wie heißt es bei euch? Anführerin? Fürstin? Oder ist sie die ehrwürdige Mutter Heilerin?«

   Caperjo wiegte den Kopf. »Heilerin trifft es am besten. Und Mutter in meinem Fall auch.«

   »Carecilla ist deine Mutter?«, entfuhr es Rossado. »Na, ihr seid aber eine überraschende Familie.«

   »Soso, sind wir das?«, schmunzelte Caperjo. »Rührt dein Eindruck daher, weil Sardilla und ich noch immer in der Hütte meiner Mutter wohnen und du trotzdem nicht mit Carecilla sprechen konntest? Sie war so mit den Vorbereitungen für diesen Abend beschäftigt, dass sie dich gar nicht wahrgenommen hätte.« Auf Rossados fragenden Blick fuhr er fort: »Sie hat das ganze magische Spektakel veranstaltet, wenn auch mit Hilfe einiger anderer Macios.«

   »Erstaunlich!« Voller Ehrfurcht blickte Rossado zu der Frau hinüber, die in diesem Moment ein armlanges Rohr in die Hand nahm. »Macios? Nennt ihr so eure Magier?«

   »So könnte man sagen, wenn man sich nicht hoffnungslos in Erklärungsversuchen verstricken will.« Caperjo wandte sich zu seiner Mutter um und stöhnte, als er sie mit dem Rohr am Feuer hantieren sah. »Wenn wir sie heute noch nach Sabo fragen wollen, sollten wir das jetzt tun, solange sie in der Lage ist, uns sinnvoll zu antworten.« Er sprang auf.

   Rossado folgte ihm kopfschüttelnd.

   »Caperjo, mein guter Junge, wen bringst du mir denn da?«, begrüßte die etwas mollige Frau die beiden Ankömmlinge. »Ist dieser äußerst wohlgeratene Jüngling dein Dank für die heutige Vorstellung?« Carecillas Stimme war von angenehmer Tiefe und hatte eine rauchige Note. Sie erhob sich mit verblüffender Leichtigkeit und ging auf Rossado zu.

   »Oh, echte blonde Locken?« Sie schloss die Lider. Ein Moment der Konzentration und das Feuer fauchte auf. Die Flammen stoben hoch und erleuchteten den Platz. Carecilla öffnete ihre Augen wieder, dunkle Augen wie die ihrer Tochter. »Entzückend!«, stöhnte sie und fuhr mit der Hand durch Rossados Haar. Ein fremdes Aroma strich ihren Arm entlang und verwirrte auch noch seinen Geruchssinn. »Hellblond sogar. Allerliebst«, seufzte sie verzückt. »Ach Caperjo, das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen.«

   Ihr Sohn trat hinter sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Er überragte sie bestenfalls einen Fingerbreit. »Keine Angst, sie wird dich nicht verspeisen«, beruhigte er Rossado und verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Es ist nur ihre Art zu sagen, dass sie dich sympathisch findet.«

   War der Kuss ihrer Tochter auch nur ihre Art, zu sagen, dass sie mich sympathisch findet?



Arioron (Band I, Kapitel VI)

Belusa schritt tiefer in die Kammer hinein, bis zum fünften Paar der Stützkonstruktionen. Sie blieb vor dem linken Kastenschrank stehen und wartete, bis Arioron zu ihr aufgeschlossen hatte. »Diesem ist Ähnliches widerfahren wie dir, nur hat die arme Seele nicht so viel Glück gehabt wie du«, sagte sie und hielt ihre Lampe vor das dritte Fach von unten. »Vielleicht sollte ich besser sagen, er hatte nicht dein Können.« 

   Die Frontplatte des Fachs trug im Gegensatz zu den meisten anderen, die Arioron gesehen hatte, kein Wappen, sondern nur einen eingeschnitzten Namen: Aracor. »Was meinst du damit?«, fragte er, hatte aber bereits einen Verdacht. 

   Statt ihm zu antworten, zog seine Mutter am bronzenen Griff der Frontplatte, klappte sie herunter und nahm einen Umschlag aus dem Fach. Sie öffnete ihn und zog einen sauber zugeschnittenen Papierbogen mit einer Zeichnung hervor. Arioron erkannte darauf einen Mann in einer unnatürlichen Körperhaltung. Das Gesicht war verzerrt vor Entsetzen und Schmerz. Arioron vermeinte noch die Schreie zu hören, so echt wirkte die Zeichnung. Dann erst erkannte er den Grund für den Todeskampf des Mannes: Teufelsschnüre! Der Schreck durchfuhr ihn, und schlagartig waren seine Empfindungen wieder da, wie er selbst in den Schlingen hing und mit diesen rang. 

   Arioron spürte den Blick seiner Mutter, und als er den Kopf hob, wandte sie sich erneut der Stelle an seinem Hals zu, wo immer noch die Würgemale zu sehen waren. »Du glaubst, dir sei ein Unfall passiert mit den Teufelsschnüren«, sagte sie ruhig, aber betont. »Du irrst.«


Estuha (Band I, Kapitel XIII)

Mit dem Kopf schlug Estuha hart an einen Felsvorsprung und Tränen traten ihr in die Augen. Nicht daran denken, einfach weiter … 

   Plötzlich war nichts mehr aus der Grotte zu hören, dafür sah sie jetzt einen schwachen Lichtschein. Fuß um Fuß hellte sich die Lavaröhre auf, gleichzeitig wurde sie höher und weiter. Estuha schnalzte mit der Zunge und Mofl verschwand wieder in ihrem Rücken. Gebückt hastete sie die Röhre entlang, während es schmerzhaft in ihrem Kopf hämmerte. 

   Nach der nächsten Biegung öffnete die Grotte sich endlich vor ihr. Schnaufend erreichte Estuha einen Felsabsatz, etwa fünf Fuß über dem Strand. Niemand war zu sehen. Doch, da – vor ihr, schemenhaft im Dunkel irgendwo zwischen Himmel und Wasser – ein Boot. Ein Mann saß darin und ruderte, was die Arme hergaben. Ihr Blick fuhr nach links. Zwei der drei Boote fehlten. Ohne weiter nachzudenken sprang sie in den Sand und lief auf das verbliebene Boot zu. Abrupt blieb sie stehen. Da lag ein Mann. Hinter dem Boot. Sein Kopf war … 

   »Estuha, komm zurück!«, schrie Pietar von oben. »Du musst da weg.« 

   Sie ging in die Knie und würgte. Nein … ich darf mich nicht davon … Den Blick zur Seite gewandt versuchte sie, das Boot zum Wasser zu schieben. Der salzige Sand brannte wie Feuer in ihren wunden Knien. 

   »Estuha, was machst du? Bist du verrückt?« Pietars Stimme überschlug sich. »Da draußen ist ein Mann, der bringt dich um!« Seine Warnung prallte an ihr ab. 

   Mit einem Ruck bewegte sich das Boot. Es war das kleinste der drei, sonst hätte sie es nicht vom Fleck gebracht. 

   »Bleib da, bitte! Warte wenigstens noch auf mich, ich muss ... dir doch helfen …« Sein Flehen endete in einem verzweifelten Schluchzer. Estuha rang den Drang nieder, noch einmal zu ihm hochzuschauen, und drückte mit aller Kraft gegen das Boot. 

   Als sie sicher war, an der Leiche vorbei zu sein, hob sie den Kopf und endlich schwamm das Boot im Wasser auf. Sie sprang hinein und ruderte los.